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Von Thomas Jüchter und Kordula Voss
Angelehnt an die Tanz-Improvisation „Fünf Rhythmen“ nach Gabrielle Roth haben Kordula Voss und ich dieses Konzept für das Heilsame Singen adaptiert und weiterentwickelt.
Es erhält seine therapeutische Bedeutung (bzw. für die Selbsterfahrung) durch die Verknüpfung mit dem Jung´schen Konzept der Archetypen.
Archetypen
Als Archetypus oder Archetyp (griechisch: Urbild, Mehrzahl: Archetypen) bezeichnet die Analytische Psychologie die im kollektiven Unbewussten angesiedelten Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster. Archetypen sind psychische Strukturdominanten, die als unbewusste Wirkfaktoren das Bewusstsein beeinflussen, dieses präfigurieren und strukturieren. Viele der Archetypen beruhen auf Ur-Erfahrungen der Menschheit wie Geburt, Kindheit, Pubertät, ein Kind bekommen, Elternschaft, das Altwerden, Tod. Das tiefenpsychologische Konzept geht zurück auf den Schweizer Psychiater und Psychologen Carl Gustav Jung, der die Analytische Psychologie entwickelte.
Ein Archetyp als solcher ist unanschaulich, eben unbewusst, ist in seiner Wirkung aber in symbolischen Bildern erfahrbar wie beispielsweise in Träumen, Visionen, Psychosen, künstlerischen Erzeugnissen, Märchen und Mythen. Carl Gustav Jung leitete das Vorkommen von Archetypen aus Astrologie, vergleichender Religionswissenschaft, Träumen, Märchen, Sagen und Mythen ab. (Wikipedia)
Die amerikanische Theaterregisseurin und Begründerin der „Fünf Rhythmen“, Gabrielle Roth, entdeckte die Archetypen der christlich-jüdischen Tradition in ihrem Tanz und beschrieb sie als Teil ihrer Seele. Sie fand, dass jeder Rhythmus sie in einen anderen Seinszustand versetzte und ihr eine andere Facette ihres wahren Selbst offenbarte.
In ihrer Methode beschreibt sie u.a. die weiblichen Archetypen Mutter, Geliebte und Madonna, ihre männlichen Archetypen sind Vater, Sohn und Heiliger Geist.
Um sie für uns nutzbar zu machen, müssen wir sie möglicherweise von allen religiösen Inhalten befreien.
Die fünf Rhythmen nach Gabrielle Roth
Gabrielle Roth benutzt die Rhythmen – in Teilen lässt sich das auch aufs Singen übertragen – in ihrer Praxis folgendermaßen, um
- die Gefühle zu harmonisieren
- mit inneren Kraftquellen zu verbinden
- zur Selbst-Befreiung
- Auflösung von Leid in Bewegung
- zur Selbst-Erkenntnis
- spirituelle Praxis für Körper und Seele
Flowing – Staccato – Chaos – Lyrical – Stillness
Jeder der Zustände fasst unterschiedliche lebendige Qualitäten zusammen, die wir brauchen um ein ausgeglichenes Leben zu führen und unterschiedliche Qualitäten an uns wahrzunehmen und zu entwickeln. Die Archetypen, als Bündelung menschlicher Erfahrung, helfen dabei, diese Qualitäten besser zu verstehen und sie ins Leben einzuladen. So brauchen wir z.B. alle die Fähigkeit uns bemuttern zu können bzw. uns bemuttern zu lassen, den wilden Sohn als Rebellen einzuladen. Wir brauchen eine Spiritualität wie in Madonna oder Heiliger Geist verkörpert und brauchen die Verbindung von männlichen und weiblichen Elementen in unsere Psyche.
Die Archetypen als konzentrierte, allgemeingültige menschliche Erfahrung sind erlebbar durchs Singen und in Texten, in denen diese einfachen Grundaussagen menschlichen Seins ebenfalls gebündelt sind (z.B. der Text „Fest verwurzelt mit der Erde, offen für die Schätze des Himmels“ als Grunderfahrung, dass man Wurzeln und Erdung braucht, um offen zu sein für außenstehende Energien). Die in Sprache oft einfach anmutenden Texte verbinden sich im Singen auf besondere Weise mit unserem Gefühl und können als Urerfahrung erlebt werden, für sich selber und in der Gemeinschaft.
Flowing
Der Rhythmus des Flowing lebt besonders von der Mutterenergie. Alles ist geerdet, fließend, alle Ideen entstehen aus Intuition, die Energie ist mit weiblichen Archetypen besetzt, in ihr verbinden wir uns mit unserem Grundstrom. Im Flowing lernen wir das Einatmen und wie wir die Dinge in uns hineinlassen.
Die Mutterenergie des Flowing ist das Energiefeld, in dem sich der feminine Teil der Seele in seiner ganzen Schönheit offenbart.Im körperlichen Tun und in Bewegung geht es besonders um Erdung, Achtsamkeit, Ergebenheit, Hingabe und Wurzeln.
Der Archetyp der Mutter ist erdend, nährend, annehmend und fürsorgend (Chi Energie)
Die Geliebte ist der Archetyp der Öffnung, der Bewegung, des Flirtens, des In-Beziehung-mit- anderen-Tretens. Die Geliebte ist Rhythmus, die Geliebte ist Zorn, die Geliebte ist Enthemmtheit, sie ist der Spiegel, sich in dem Anderen zu entdecken.
Die Madonna ist der Geist des weiblichen Verstandes, die „Zenjungfrau“, die immer mit dem Fuß in einer anderen Dimension ist, die Zauberin. Sie ist die, die die spirituelle Ebene zum Erdigen und Geliebten innehält. Sie nährt auch unseren Stammesgedanken, Teil einer Gruppe zu sein. Die Madonna ist die, die uns lehrt, achtsam für die Dinge um uns herum zu sein.
Staccato
Der Staccato-Rhythmus ist das Pendent des Flowing. Es ist die Vater-Energie.
Der Archetypus Vater ist das männliche Bewusstsein unseres Körpers und der Seele, der aktive, praktische, beschützende Teil. Er setzt Ziele. In ihm ist das Lineare und Kantige verkörpert, Feuer, Yang, Ausatmen. Die väterliche Energie hilft, Grenzen zu setzen, Entscheidungen zu treffen. Auch „Himmel“ können wir mit Vater-Energie verbinden.
Der zweite Archetypus in diesem Rhythmus ist der Sohn.
Es ist der gnadenlos männliche, unbezähmbare Teil, der unbedingt Freiheit will. Der Sohn ist sein Leben lang in der Pubertät; ständig unter Dampf, leidenschaftlich, unberechenbar, ein Tabu-Brecher. Bei ihm geht es um Rock´n Roll und Rebellion gegen die väterliche Autorität. Er sucht in seinem Herzen, was Veränderung vorantreibt, stellt die Dinge auf den Kopf, geht Risiken ein. Der Sohn ist der emotional ausdrucksstarke Teil der Seele, der um jeden Preis die Wahrheit sagt. Er sucht die Ekstase.
Der dritte Archetypus ist der Heilige Geist.
In ihm wirkt die aktive Suche nach einer Antwort, nach dem Sinn des Lebens. Wir suchen nach Wegen, auf denen wir das heilige Verlangen erforschen können. Der Heilige Geist hütet die Pforte des reinen Geistes und kennt die Wahrheit, ist die Wahrheit. Er durchschaut alles und steht über allem, wertet nicht, bleibt unverändert, was und wer auch immer uns begegnet. Früher, heute und in Zukunft gibt es – bei allen auch schwierigen Phasen unseres Lebens – einen Teil in uns, der unverändert bleibt, der weder festhält noch loslässt, den Teil in uns, der einfach ist. Er ist unser höheres Selbst, das uns mit höheren Kräften zusammenführt. Er schafft Gemeinschaft, vermag uns auf andere Wesen einzustimmen und seine Tiefen zu ergründen.
Chaos
Das Chaos ist die Verbindung und das Aufeinandertreffen von männlichen und weiblichen Energien. Chaos bedeutet leerer Raum oder Abgrund. Das Chaos [ˈkaːɔs] (von griechisch χάος cháos) ist ein Zustand vollständiger Unordnung oder Verwirrung und damit der Gegenbegriff zu Kosmos, dem griechischen Begriff für die (Welt-)Ordnung oder das Universum.
Polaritäten werden überwunden und versöhnen sich miteinander. Chaos ist weder männlich noch weiblich. Es verlangt Hingabe ans Unbekannte. Im Chaos gehen wir tief in den Strudel des Wassers und sind mit Bildern konfrontiert, die auch Trauer oder Verwirrung hervorrufen können.
Das Chaos lehrt uns, wie es sich im Unbekannten lebt und wie gut es sich anfühlt. Die Intuition speist sich aus dem Chaos.
Der Rhythmus Chaos erweckt den Verstand und verwurzelt ihn mit den Füßen.
Die Archetypen des Chaos sind:
Der Künstler: die Hochzeit aus weiblichen und männlichen Energien. Jeder hat einen inneren Künstler, der sich durchs Lebendige nährt, der im Chaos entsteht, der mit der Intuition verknüpft ist; die Seele will dir sagen, auf welche Weise du dich ausdrücken willst. Du musst nur still sein und zuhören.
Alle Kunst strömt in unsere Persönlichkeit, aller Alltag ist Kunst. Der Archetyp bestimmt, wie wir uns kleiden, wie wir klingen, wie wir den Alltag wahrnehmen. Im Chaos darf immer wieder etwas Neues entstehen, aus dem Unbewussten heraus.
Der Liebende: ist die Frucht aus Geliebte und Sohn. Im Lieben brauchen wir starken Rückhalt, wir empfangen und ergeben uns, stürzen ins Chaos. Um zu Liebenden zu werden, müssen wir uns in die Liebe verlieben.
Der Liebende in uns schreit nach sexueller Ektase, das Chaos ist der Schlüssel zum erotischen Potential. Eine wirkliche, leidenschaftliche Liebesbeziehung lebt im Moment und umarmt das Chaos.
Der Suchende: ist die Verbindung aus Madonna und Heiligem Geist, aus Unschuld und Weisheit:
Im Suchenden steckt der Antrieb, im Chaos die Ordnung zu finden – er sucht nach der inneren Weisheit.
Der Suchende muss Glauben entwickeln, Glauben dahin, dass es ein ewiges Entwicklungspotential für uns selber gibt: Träume sind der Bereich des Suchenden.
„Wir tun nicht, wir sind. Wir bleiben in Bewegung im Wissen, dass dies unser einziges Gebet ist.“
Lyrical
Wir werden uns bewusst, dass wir noch im Werden begriffen sind. Nichts ist fest, am allerwenigsten unsere Identität. Beim flowing haben wir uns in der femininen Energie verwurzelt, beim staccato in der männlichen und beim chaos entdecken wir die Verbindung in uns. Im lyrical können wir das Chaos loslassen, uns erleichtern. Es ist das Nachspiel des Chaos. Es ist nicht vortäuschbar.
Es genügt völlig, einfach nur zu sein. Ich bin weißes, inneres Licht, ein Zusammenströmen tief empfundener Emotionen. Geist und Verstand sind unbeschwert, ich spüre Offenheit, Freiheit und Furchtlosigkeit. Lyrical ist verbunden mit dem Element Luft. Unsere Vorstellungskraft wird grenzenlos. Die Phantasie des lyrical ist auf Intuition begründet.
Zum Erwachsen-Werden gehört die Erkenntnis, dass wir unsere eigene Realität erschaffen, wir haben die Macht zu entscheiden, wie wir mit unseren Lebensumständen umgehen wollen, übernehmen Verantwortung, es ist Zeit der Reife.
Auch das lyrical braucht die Erdung. Ohne die laufen wir Gefahr, uns derart in eine Phantasie hineinzusteigern, dass wir den Kontakt zu unserem Körper, unserem Herzen und zum Verstand verlieren und um uns selber kreisen.
Wenn lyrical geerdet ist, wirken Körper, Herz und Verstand als Einheit, sind wir ganz und gar eingestimmt, verfügen wir über die improvisatorischen Fähigkeiten eines Jazzmusikers.
Wir können uns verwandeln (shapeshifting). Die Schattenseite ist, dass wir versuchen, uns unsichtbar zu machen oder jemand anders zu sein. Der Trick ist, sich mit dem Wandel zu identifizieren statt mit der Gestalt, mit dem Prozess statt mit dem Produkt.
Wir tragen die Gabe in uns, unsere Identität zu verändern, indem wir Energien Gestalt verleihen, die in uns verborgen sind.
Wir können alle Erwartungen fallenlassen. Es ist so, als schwebe man in einem Ballon, der mit einem Gas gefüllt ist, das leichter ist als Luft. Der Körper erhebt sich zum Flug, wir fliegen auf und davon.
Stillness
In der Stille finden wir zu uns selbst, richten unsere Aufmerksamkeit ganz auf uns. Es ist ruhig, wie sanfte Wellen auf einem See. Wir werden noch einmal all dem gewahr, was wir in den vorherigen Rhythmen erfahren haben und nichts kann uns aus der Stille herausreißen.
Unsere Stimme hat jetzt mehr Resonanz und Präsenz, klingt schöner denn je. In der Verletzlichkeit können wir ganz unerwartet eine besondere, kostbare Kraft entdecken. Wir begreifen den Unterschied der Kraft des Seins und der Kraft des Tuns.
Im stillness entdecken wir die Langsamkeit der Bewegungen, sammeln alle Energie nach innen, sinken in die Leere hinein, halten inne.
Die letzte „stillness“, die wir erfahren, ist schließlich der Tod. Wohl deswegen erklärt sich auch die Angst vieler – insbesondere westlichen Menschen – vor der Stille.
Wenn wir uns dem Tode nähern, bewegen wir uns im Rhythmus von „stillness“.
Wir tragen unsere Zukunft in uns und haben, wann immer wir dafür bereit sind, Zugang zu den Lektionen von stillness: Weisheit, Mitgefühl und Inspiration.
Diese drei werden vom Archetypen des Alchemisten verkörpert. Der Alchemist bringt uns an Orte des Wunders, des Staunens und des Mysteriums des Seelischen. Hier begegnen wir durchaus auch den Schattenseiten und unseren Urängsten, die wir überwinden können, wenn wir den Mut aufbringen, innezuhalten und sie kennenzulernen.
Der Alchemist nimmt sich unserer Schmerzen, die tief in uns sind, an und verwandelt sie in Mitgefühl für uns und für andere.
Der Alchemist vermag die Schmerzen in Kunst, die Negativität in Kreativität, Wut in Mitgefühl zu verwandeln.
(aus: Gabrielle Roth, Leben ist Bewegung)
Thomas Jüchter Kordula Voss
www.cantokreise.de
www.klang-hafen.de
Literatur:
Gabrielle Roth „Leben ist Bewegung“
Gabrielle Roth „Totem“
Gabrielle Roth „Das Chaos der Stille“