Heilsames Singen

Foto: ???

von Thomas Jüchter

In den nachfolgenden Ausführungen beleuchten wir die heilsamen Faktoren und Wirkun-gen des Singens, die in den letzten 10 – 20 Jahren durch zahlreiche Forschungen mit modernen Methoden z.B. der Neurologie, Chronobiologie und Psychologie wissenschaft-lich nachgewiesen werden konnten.

Das Singen ist als Ausdruck seit Menschengedenken eine in allen Kulturen und Traditionen praktizierte Form. Es ist dem Menschen angeboren und gewissermaßen ein Grundrecht. Die erste Kontaktaufnahme zwischen dem neugeborenen Säugling und seiner Umwelt, insbesondere seinen Eltern, ist geprägt durch die Stimme. Am Lebensende bleiben die Spuren von Gesängen, Liedern und Musikerfahrungen, selbst wenn Sprache und Erinner-ung dem Verfall preisgegeben sind. Zwischen Lebensanfang und Tod ist es ein wunder-bares Lebenselixir, das die körperliche und seelische Gesundheit stärken kann. Die Arbeit mit Stimme, Gesang und Bewegung in Gruppen kann darüber hinaus soziale Fähigkeiten stärken und Erfahrungen tiefer Verbundenheit ermöglichen.

Die Erkenntnisse führten 2009 zur Gründung des Vereins „Singende Krankenhäuser e.V.“ u.a. mit dem Ziel, das Heilsame Singen als gesundheits- und gemeinschaftsförderndes Angebot in Gesundheits- und Betreuungseinrichtungen zu verbreiten.


Heilsames Singen

Heilsam ist das Singen in dem Moment, wo wir uns dem Singen ganz hingeben und mit offenem Herzen ganz im Hier und Jetzt sein können. Heilsam heißt dann, dass es positiven Einfluss auf unser momentanes Befinden hat. Gleichzeitig stärkt es in großem Maße das Gefühl der Verbundenheit. Wer das Heilsame Singen regelmäßig praktiziert, kann auf allen Ebenen des menschlichen Seins, also in seelischer, geistiger, körperlicher,

sozialer und spiritueller Hinsicht profitieren. Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die die Heilkraft des Singens unter (vielsingenden) Chorsängern belegt. Diese führen ein signifi-kant gesünderes, zufriedeneres und erfolgreicheres Leben als Nichtsinger (G. Kreutz, St. Clift u.a. Canterbury Christ Church University 2008, Choral Singing, Wellbeing and Health in W. Bossinger, 2006).

Beim Heilsamen Singen geht es also um das Singen selbst, mit offenem Herzen und Hin-gabe, nicht um Darstellung und Bühne. Insofern ist es auch eine Form, die insbesondere auch denjenigen den Zugang zum Singen wieder ermöglicht, die ihn durch negative Bewertungen im Leben verloren haben. Untersuchungen haben ergeben, dass etwa 50% der deutschen Bevölkerung negative Erfahrungen mit Singen besitzt und nicht mehr singt. In einer Befragung meiner PatientInnen einer psychosomatischen Klinik sind es gar über 80%.

Singen ist ein Lebenselixier und ein Gesundheitserreger, es stärkt das Abwehrsystem, Herz und Kreislauf, vertieft die Atmung, was zu einer höheren Sauerstoffaufnahme führt, die wiederum den gesamten Organismus versorgt. Man lässt im wahrsten Sinne Dampf ab. Dadurch reguliert sich unser Stressempfinden, Selbstheilungskräfte werden mobilisiert.

Singen hat einen Einfluss auf unsere Emotionen. In unserem Gehirn wird ein regelrech-ter Glückscocktail zusammengebraut, denn Singen erhöht die Ausschüttung der Vitali-tätsbotenstoffe im Mittelhirn. Diese bewirken nicht nur, dass wir uns wohler und energie-voller fühlen: wir erleben die Verbundenheit mit anderen Menschen intensiver. Beim Singen werden Stresshormone abgebaut, wir entspannen uns und kommen leichter in unsere Mitte. So ermöglicht Singen Flow-Erleben. Dabei gehen wir ganz im gegenwär-tigen Moment auf, der Gedankenstrom wird unterbrochen. Diese Erfahrung ist zutiefst heilsam.

Das gemeinsame Singen fördert das Gefühl von Selbstwirksamkeit, d.h. ich spüre, dass ich etwas für mich tun kann, bin nicht ohnmächtig äußeren Bedingungen ausgesetzt. Das wiederum stärkt die Sozialkompetenz und das Selbstbewusstsein. Ich beSTIMME mich selbst. Wir erleben, wie positiv das Selbstbestimmen auf Körperrhythmus, Körperwahr-nehmung und Seele wirkt. Die Affirmationen der Gesänge beim Heilsamen Singen können zu neuen Synapsen im Gehirn und damit zu einer positiven Lebenseinstellung führen. Dies sind wichtige Faktoren zur Stärkung der Resilienz, die uns hilft, Lebenskrisen zu meistern.


Über Chronobiologie, Rhythmus und Gesundheit

In neueren Forschungen der Chronobiologie und der Chronomedizin wird immer deutli-cher, dass unser menschlicher Körper durchzogen von Schwingungsprozessen und rhyth-mischen Vorgängen ist. Unsere Nervenzellen schwingen im Bereich von Millisekunden, Atem und Herz im Sekundenbereich, und es gibt zahlreiche langsamere Schwingungs-vorgänge und Rhythmen. All diese Rhythmen stehen in engem Zusammenhang mit Gesundungs- und Krankheitsprozessen.

Für die Erhaltung seelischer und körperlicher Gesundheit scheint aus chronomedizini-scher Sicht die harmonische Abstimmung der verschiedenen Körperrhythmen und Schwingungsvorgänge von großer Bedeutung zu sein.

Der Chronomediziner Prof. Dr. Maximilian Moser von der Uni Graz (in Bossinger, 2006) sagt: „Ein gesunder Organismus ist chronobiologisch in Harmonie – seine Rhythmen sind synchronisiert und aufeinander abgestimmt. Gestörte Rhythmen treten bei Nacht- und Schichtarbeit, bei hohem Stress oder beim Jetlag auf. Neue Studien haben gezeigt, dass diese Störungen zu schweren Erkrankungen. Stoffwechselstörungen, Herzinfarkt und erhöhter Krebsrate führen können. Die Wiederherstellung einer intakten Rhythmik wird in der Medizin, insbesondere der präventiven Medizin der Zukunft eine große Rolle spielen.“

Durch Musik und insbesondere durch Singen können sich die Schwingungen Herz- und Atemrhythmus so synchronisieren und beeinflussen, dass die resultierende Wirkung mittlerweile sogar in Tiefschlaf-Phasen während der Nacht in Form besserer Erholung nachgewiesen werden konnte.

Die Synchronisierung der Schwingungsbreite der Herzfrequenz beim Mantra-Sngen kann zu einem flow-Zustand führen. Denn wir schwingen optimal mit der Umwelt zusammen, erfahren gelingende Interaktionen. Das Herz zeigt ein optimales harmonisch-kohärentes Spektrum im Elektrokardiogramm (EKG), die sogenannte Herzkohärenz. D.h. unser gesamtes vegetatives Nervensystem ist im Gleichgewicht. Durch Singen entsteht eine enorme Zunahme der Herzratenvariabilität. Dadurch sinken Zustände von Depressionen, Stress und Angst. Es entstehen Gefühle von Liebe, Dankbarkeit und Verbundenheit, Sinnhaftigkeit und Frieden.

Bemerkenswert war in Mosers Untersuchungen die Wirkung des Intonierens der Medita-tionssilbe „om“. Hier zeigten sich nicht nur hochsynchrone Schwingungen, die laut Moser auf einen stärkeren Erholungswert hinwiesen als Tiefschlafphasen, sondern auch eine drastische Zunahme rhythmischer Schwankungen der Herzfrequenz. Diese Schwingungs-muster erwiesen sich bei „om“ übrigens stabiler als beim Intonieren ähnlicher Silben wie „am“, „em“ oder „im“. Dem Atem-Rhythmus kommt in der Wirkung auf die Körper-Rhythmen eine wichtige Schlüsselrolle zu – und er ist ein wesentlicher Bestandteil des Singens.


Atmung und Singen

Singen ist tönender Atem. „Atem“ und „Geist“ ist in vielen Sprachen identisch. Im La-teinischen bedeutet „spirare“ blasen, hauchen, atmen, „Inspiration“ ist der „Einhauch“, „spiritus“ bedeutet Geist. Im Sanskrit prana, im Chinesischen chi, Ruach im Judentum meint die universelle Lebensenergie, die nach den Lehren spiritueller Traditionen über das Atmen aufgenommen werden.

Vor allem das Singen von Mantren und Chants verlängert den Prozess des Ausatmens und verhilft uns zu einer gleichmäßig strömenden Ausatmung. Während wir im Normal-zustand 15 – 20x pro Minute ausatmen, ist es beim Singen lediglich 4 – 6x. Durch das Singen trainieren wir unsere Atmung, so dass die Atemmuskulatur und das Lungengewebe elastisch bleiben können. Durch das gleichmäßig strömende Ausatmen können wir muskuläre Anspannungen und Verkrampfungen sanft auflösen. Gleichzeitig nehmen wir über das Einatmen mehr Sauerstoff auf, was zu einer Stimulierung aller Organfunktionen führt. Der so vertiefte Atem führt zu einem Zwerchfelltiefstand und einer gesunden Bauchatmung. So lösen sich z.B. bestehende Angstgefühle auf.

Durch das gemeinsame Atmen können wir Gefühle von Verbundenheit empfinden und öffnen sich Zugänge zu Gefühlen.


Praxis

„Es gibt keine Fehler beim Singen, nur Variationen“, wie es der Musiktherapeut Wolfgang Bossinger, Gründer des internationalen Netzwerks Singende Krankenhäuser e.V., nennt.

Ein afrikanisches Sprichwort lautet: Wenn du gehen kannst, kannst du auch tanzen, wenn du sprechen kannst, kannst du auch singen!

„Wenn einer aus seiner Seele singt, heilt er zugleich seine innere Welt. Wenn alle aus ihrer Seele singen und eins sind in der Musik, heilen sie zugleich auch die äußere Welt.“ – Yehudi Menuhin

In unseren Workshops möchten wir die heilsame Kraft des Singens erfahren lassen, wenn es darum geht, zu regenerieren, loszulassen, Mitgefühl und Liebe zu empfinden und berührbar zu bleiben. Wir singen Lieder aus unterschiedlichen Kulturen und Traditionen, vielfach in fremden Sprachen. Sie reichen vom indianischen oder afrikanischen Kraftlied über indische Mantras, Sufi-Lieder, Lieder aus Urvölkern der Aborigines und Maori bis hin zu jüdischen Niguns. Wir müssen dabei nicht jedes Wort verstehen, sondern dürfen uns erlauben, unseren Verstand ruhen zu lassen, um uns der Tiefe, der Schwingung, dem Wesen jedes einzelnen Stückes hinzugeben. Wir dürfen das tun im vollen Respekt vor der Herkunft eines Liedes, vor der Religion oder der Tradition, aus der es stammt und im Wissen um die „positive Aufladung“ der Lieder. Vielen liegen urmenschliche Themen zugrunde wie Abschied und Neubeginn, Liebe, Verbundenheit, Annehmen, Loslassen, Losgehen, Tod etc. Insofern können wir die Lieder unabhängig davon verwenden, inwiefern wir einer bestimmten Glaubensrichtung anhängen. Vielen fällt das Singen in fremden Sprachen leichter.

Ein zweiter Schwerpunkt sind heilsame Lieder in deutscher bzw. englischer Sprache. In ihrer Form und ihren Inhalten gleichen sie den „Welt-Liedern“. Wenn wir sie jedoch in unserer Sprache singen, ist der Bezug auf der kognitiven Ebene noch einmal deutlicher. Es kann uns ganzheitlicher erfassen, wenn wir uns darauf einlassen können. Allen gemeinsam ist ihre positive Aussage. Einige unserer eigenen Lieder beruhen auf Schlüssel-Sätzen unserer Patienten in der Musiktherapie. In ihrer musikalischen Struktur sind sie für unsere westlichen Ohren sehr vertraut und sehr oft von einer unglaublichen Schönheit und Tiefe.

Die Formen entsprechen denen von Mantren. Das Wort Mantra setzt sich aus den beiden Silben man und tra zusammen, die von manas und trajate abgeleitet sind, was so viel wie Geist und befreiend bedeutet. Ein Mantra ist also eine (spirituelle) Klangschwingung die den (materiell verschmutzten) Geist befreit.

Diese Form eignet sich in methodischer Hinsicht hervorragend für das Singen mit unterschiedlichsten Gruppen. Es bedarf keinerlei musikalischer Erfahrung, gleichzeitig hindert diese auch nicht. Sie sind leicht erlernbar, oft sehr einfach und schlicht in ihrer Struktur und vom Umfang her. In der Regel besteht das Mantra nur aus einem Satz, manchmal auch nur aus einem Wort. Eine Verdichtung, eine Essenz also.

Aus neurologischer Sicht haben Mantren eine große Wirkung. Im Zentralhirn vernetzen sich neue Nervenbahnen, wodurch es möglich sein kann, dass die „Negativ-Mantren“ sich abschwächen können. Viele kennen die machtvolle Wirkung von Negativ-Mantren wie „Das schaffe ich nie“, „Mich mag keiner“ etc. Sie prägen mitunter das gesamte Sein und wir sorgen dafür, dass wir sie in der Realität immer wieder bestätigt bekommen. Solche Sätze lassen sich im Prinzip nur durch Gegen-Sätze „entmachten“, um so wirksamer, wenn sie mit emotionalen Neuerfahrungen, wie sie beim gemeinsamen Singen erlebt werden können, verbunden sind. Ein „Mich mag keiner“ beruht wahrscheinlich auf vielen negativen Beziehungserfahrungen. Die Grundhaltung und die Erfahrung im Heilsamen Singen beruht auf der Annahme, dass wir alle durch unser Mensch- und Lebendig-Sein miteinander verbunden sind, ganz unabhängig von Status, Religion, Herkunft, Aussehen etc. Das Lied „Ich bin liebenswert“ von Klaus Nagel kann dann zu einem solchen Gegen-Satz werden. Vielleicht glauben wir ihn anfangs noch nicht, singen ihn eher zögerlich, aber nach und nach verselbständigt er sich und die Worte gewinnen eine Eigendynamik, gehen langsam ins Selbst-Verständnis über und wirken sich unwillkürlich aus, innerlich wie äußerlich. In der Tiefe gibt es in jedem und jeder von uns einen unzerstörbaren Kern, ein tiefes Wissen um eben genau diesen Aspekt, bedingungslos angenommen und geliebt zu sein, der es uns ermöglicht, miteinander in Beziehung zu gehen.

Wir sind singend in Beziehung. Viele dieser Lieder laden zu Bewegungen und Begegnun-gen ein, über Gebärden und Gesten, in leichten Choreographien oder auch improvisato-risch-freibleibend. Die Singenden sind in Kontakt miteinander. Dadurch können sich die Erfahrungen bei diesen Liedern noch verstärken bzw. verleiblichen. Andere Lieder lassen sich wiederum am besten „auf der eigenen Matte“ singen, ganz für sich, um einen medi-tativen Zustand zu vertiefen.


Freiwilligkeit

Der Volksmund weiß: „Beten, Lieben und Singen lassen sich nicht erzwingen“. Die Stimme ist ein höchst intimer, persönlicher und daher verletzlicher Bereich. Schädigungen lassen sich oft ein Leben lang nicht wieder reparieren. Viele verbinden mit Singen nicht zuletzt aus alten Schulerfahrungen sehr demütigende Erfahrungen und bleiben sang- und klanglos. Insofern ist oberstes Prinzip in solchen Singgruppen die Freiwilligkeit und Selbstregulierung. Die Freude am Tun steht über allem. Mit Humor und durch gezielte Warming-Ups lassen sich oftmals eine positive Stimmung, Lockerheit und Öffnung erreichen, die es auch Skeptikern erlaubt, sich auf neue, korrigierende Erfahrungen einzulassen. Immer bleibt es in der eigenverantwortlichen Entscheidung eines Einzelnen, ob und wie weit er sich auf die Angebote einlassen möchte.

Literatur:
Wolfgang Bossinger: „Die heilende Kraft des Singens“ 2006, Traumzeit-Verlag
Wolfgang Bossinger und Wolfgang Friedrich: „Chanten“ 2008, Südwest-Verlag
Wolfgang Bossinger, Norbert Hermanns, Thomas Jüchter (Herausgeber): „Das Potenzial des Heilsamen Singens“ 2013, Tagungsband Jahreskonferenz 2012
Karl Adamek: Singen als Lebenshilfe, 1996, Waxmann-Verlag
Prof. Gunter Kreutz: „Warum Singen glücklich macht“, 2014, Psychosozial-Verlag

Zurück zur Blogübericht